Die Bergkönigin

Ein junger Ritter reiste einst mit zwei Knappen durch das Fichtelgebirge. Von einem Walen hatte er gehört, dass im Herzen des Gebirges die Bergkönigin wohne, und er hätte sie gerne auch einmal gesehen. Als er an der Seelohe vorüberritt, trat aus dem Wald ein Zwerg hervor, der den Ritter mit seinen Begleitern in den Palast der Bergkönigin einlud. Die drei Abenteurer folgten unerschrocken dem Zwerg und gelangten an einen Felsen, der den Eingang zum unterirdischen Schloss bildete. Hier ermahnte sie der Führer noch, dass sie schweigsam und anständig sein müßten, auch der Königin nicht in ihr Kristallgemach nachfolgen dürften, sonst würde ein Unglück geschehen.

Nachdem sie einen prächtigen blütengeschmückten Garten durchschritten hatten, traten sie in einen Saal, so groß wie das Schiff eines Domes. Die Halle war aus leuchtenden Edelsteinen gebildet und silberne Quellen mit Perlen und Goldkörnern rauschten hinab in das Gebiet der äußeren Berge. Vor einer ungeheuren Orgel saß auf thronartigem Sitz die riesenhafte Bergkönigin und spielte eine wundervolle Melodie. Wie Sturmesrauschen und Donnerschall erklangen die gewaltigen Töne. Dazu sang sie ein Lied, das durch seine Stärke erschütterte, trotzdem aber wundersam zum Herzen sprach.

Als die Musik verklungen war, erhob sich die Bergkönigin von ihrem Sitz und wandte ihr Antlitz den drei Fremdlingen zu. Trotz ihrer ungeheuren Größe war sie von unaussprechlicher Schönheit. Der Ritter, der schon vielen edlen Frauen gehuldigt hatte, erkannte sofort, dass ihm nirgends soviel Liebreiz und Anmut begegnet war. Der Zwerg führte die Gäste zu einer Tafel, wo die köstlichsten Leckerbissen des Fichtelgebirges zum Mahle einluden. Ohne Säumen machten sie die Knappen über den Hirschbraten, Bärenschinken und über die Forellen und anderen gar fein zubereiteten Fische her.

Allein der Ritter konnte sein Auge nicht von der wunderhübschen Königin abwenden und sein kleines Menschenherz erglühte in heftiger Liebe. Die Königin zog sich nun in das innerste Kristallgemach zurück und ließ sich auf einem Ruhebett nieder. Das schöne Haupt stützte sich auf ihre lilienweiße Haut, während die Dienerinnen den Wald ihrer Locken ordneten. Ihre Füße ruhten auf einem hohen Schemel. Der Ritter stand noch immer in Entzücken verloren und es erwachte die Sehnsucht, dieser herrlichen Frau einen Kuss zu rauben. Er vergaß die Warnungen des Zwerges und mit einem kühnen Sprung erklomm er den Fußschemel; ehe es die Königin verhindern konnte, hatte sie den Kuss des Ritters empfangen. Aber im gleichen Augenblick betäubte ein fürchterlicher Donnerschlag den Frevler und er vernahm nur noch ein tiefes Rauschen und Stürzen, als ob wilde Bergwasser durch sein Gehirn brächen.

Endlich kam er wieder zu sich und hörte die Stimmen seiner Knappen. Als der die Augen aufschlug, lag er in unwirtlicher Gegend auf einer Moosbank. Der eine Knappe hielt noch die goldene Gabel mit einer Forelle in der Hand, der andere leckte den goldenen Schöpflöffel ab. Vorwurfsvoll sagten sie zu dem Ritter: "Ihr habt uns durch Euren entsetzlichen Kuss das beste Essen verdorben!" Aber er tröstete sie: "Euch ist doch von der ganzen Herrlichkeit noch etwas in der Hand verblieben, das Euch entschädigt!"

Am nächsten Tage kam der Ritter mit seinen zwei Knappen auf das Waldsteinschloss, wo ihn der befreundete Burgherr willkommen hieß. Dieser stellte dem Gast auch seine Tochter vor, die an demselben Tag aus der Fremde heimgekehrt war. Wie erstaunte der Ritter, da das liebliche Mädchen ganz das Ebenbild der Bergkönigin war. Sogleich entflammte sein Herz und er warb um sie und als er ihr den ersten Kuss gab, brauchte er nicht wie bei der Bergkönigin einen Sprung in die Höhe zu machen, um ihren Mund zu erreichen. Als ehrlicher Ritter verhehlte er später auch seiner Gemahlin nicht, welche Abenteuer er mit der Bergkönigin bestanden hatte. Da lächelte die junge Frau schalkhaft und sagte: "Wie nun, wenn ich die Bergkönigin wäre und mich aus Liebe zu dir in ein irdisches Mädchen verwandelt hätte, um deine Gattin werden zu können?" "Wenn das so ist", antwortete der Ritter lächelnd und hob seinen Erstgeborenen empor, "so habe ich hier ein Pfand, dass du bei mir bleibst und nie mehr auf deinen unterirdischen Thron zurückkehrst!"